Schott Music

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„Ungebrochener Mut für eine zu Herzen gehende Musik“

Mit dem Komponisten und Musikwissenschaftler Heinrich Poos, der über mehr als drei Jahrzehnte als Professor an der Berliner Hochschule der Künste lehrte und für seine Kompositionen mit zahlreichen Auszeichnungen (darunter der Kompositionspreis der Arbeitsgemeinschaft Europäischer Chorverbände AGEC) geehrt wurde, sprach schottchor.com über sein umfangreiches Vokalmusikschaffen und das Ideal zukünftiger Chormusik.

Poos1_150pxschottchor.com: Wie würden Sie Ihre Musiksprache heute charakterisieren? Wie hat sich Ihre Stilistik über die Jahre verändert?

H.P.: Von der Absicht geleitet, sowohl den Gedanken als auch dem Tonfall eines mir vorgeschlagenen oder von mir ausgewählten Textes gerecht zu werden, diesen also nicht einem sogenannten „Stil“ zu unterwerfen, sondern seinen spezifischen „Ton“ zu finden, um diesen in die Sprache der Musik, deren eigentümliche Worte und Wendungen zu übersetzen – was selbstverständlich ihr Studium zur Voraussetzung hat –, mag sich mein Gebrauch dieser Sprache insofern verändert haben, dass sie in den Jahren reicher und poetischer geworden ist.

schottchor.com: Wo sehen Sie Ihre Wurzeln, Ihre künstlerischen Vorbilder?

H.P.: In der Kantoreipraxis meiner früheren Jahre, in der großen Chormusik Ernst Peppings, an deren Einstudierungen und Uraufführungen ich mitwirken durfte, sowie in meinen wissenschaftlichen Studien zur Geschichte der europäischen Chormusik.

schottchor.com: Inwieweit hat die Kunst im Allgemeinen und die Musik im Besonderen in Ihren Augen einen „missionarischen“ Auftrag?

H.P.: Wie sich heute von einem missionarischen Auftrag der Kunst reden ließe, nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, dem Niedergang des Christentums und angesichts der europäischen Bildungskatastrophe, das weiß ich nicht. Schon die großen Erzählungen vom Menschen „Jenseits von Eden“ berichten vom Scheitern eines Orpheus, vom Mordversuch eines Mächtigen an einem Harfenspieler. Auch haben wir von hochgebildeten Menschen gehört, denen beim Anhören der Bach’schen Matthäuspassion die Tränen kamen, was sie jedoch nicht daran gehindert hat, ihre Mitmenschen in die Gaskammern zu schicken.

Auf meinem Arbeitstisch stand lange Jahre der Brecht’sche Spruch:

Daß man Musik treibt, hat vier Nachteile:
Die Hungrigen werden nicht gesättigt,
Die Frierenden werden nicht gewärmt,
Die Obdachlosen bleiben obdachlos,
Und die Verzweifelten werden nicht getröstet.

Später wurde er verdeckt von einer Postkarte, auf der zu lesen war:

„I don’t know where we’re goin‘
and I don’t know where we been,
but I know that where we is isn’t it.“
(Lord Buckley)

Dass ich dennoch den Mut nicht verloren habe, gute, gedankenreiche und „zu Herzen gehende“ Musik zu schreiben, könnte das nicht schon die Botschaft sein?

schottchor.com: Welche (technischen) Voraussetzungen sollte ein Chor für die Aufführung Ihrer Werke mitbringen? Und wie ordnen Sie selbst den Schwierigkeitsgrad Ihrer Werke für die Sänger ein?

H.P.: Umständehalber sah ich mich veranlasst, Musik für alle Chorgattungen und alle Schwierigkeitsgrade zu schreiben. Ein gut ausgebildeter Chorleiter wird am besten wissen, was er seinem Chor zumuten kann.

schottchor.com: Wenn man Sie bitten würde, Chorkompositionen aus Ihrem Gesamtschaffen herauszuheben: Welche wären das und warum?

H.P.: Meine Chorlieder „Auferstehn“, „Um Frieden“, „Um Jaroschau fließen“, die Chorzyklen „Nachklänge“, „Zeichen am Weg“, „Vier Liebeslieder nach Gedichten von Bertolt Brecht“ sowie die drei Motetten der „Cantica“, „Sphragis“, „Hypostasis“, sowie die „Orpheus-Fantasien“.

schottchor.com: Ihr Spektrum an Chorkompositionen ist breitgefächert und reicht bekanntlich vom einfachen Choralsatz bis hin zu „Sinfonie“ genannten Vokalvertonungen. Hegen Sie ein besonderes Faible für eine besondere Form/Besetzung?

H.P.: Für anspruchsvollere Texte und deren A-cappella-Vertonung bevorzuge ich die Besetzung SSATBB. Der Chorklang wird dadurch, dass der zweite Sopran den ersten mit dem Alt und der erste Baß den Tenor mit dem zweiten Bass „vermittelt“, homogener. Eine „Chorspaltung“ wird mühelos möglich. Der Farbenreichtum „chorischer Instrumentierung“ bleibt erhalten.

schottchor.com: Komponieren damals und heute: Haben sich aus Ihrer Sicht Ansehen und Akzeptanz des Komponistenberufs im Verlauf des 20. und noch jungen 21. Jahrhunderts zum Positiven gewandelt?

H.P.: Die Frage sollte man einem Soziologen stellen, anstatt von einem alten „Maultier, das im Nebel seinen Pfad sucht“ (Goethe) zu erwarten, hierauf eine Antwort zu geben. Schon das, was die Frage unterstellt, scheint mir kaum diskutabel.

schottchor.com: Sie sind Komponist und Musikwissenschaftler in einer Person. Sehen Sie sich bei Ihren Kompositionsprozessen zuweilen der Gefahr einer zu starken musiktheoretischen „Verkopfung“ ausgesetzt?

H.P.: Was für ein Vorurteil (und ein Unwort dazu). Der altgediente Musikpädagoge gedenkt der Worte des weisen Salomo: „Und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind.“

Zur Sache aber und jetzt mit Horaz: „Ob durch Naturtalent eine Dichtung Beifall erringt oder durch Kunstverstand, hat man gefragt. Ich kann nicht erkennen, was ein Bemühen ohne fündige Ader oder was eine unausgebildete Begabung nützt; so fordert das eine die Hilfe des andern und verschwört sich mit ihm in Freundschaft.“ (Ars Poetica, 408-411)

schottchor.com: Was braucht neue Chormusik im 21. Jahrhundert aus Ihrer Sicht?

H.P.: Weniger gut gemeinte, vielmehr gut gemachte, gedankenreiche, „zu Herzen gehende“, aufführungspraktisch orientierte europäische Chormusik, die sich der Übermacht einer Neuscholastik nicht zu fügen braucht, weil sie das Gespräch mit der Tradition, das immer noch als Voraussetzung alles „Fortschrittlichen“ verstanden werden kann, nicht scheut.

schottchor.com: Haben Sie noch eine spezielle musikalische Vision, die Sie sich persönlich in der Zukunft erfüllen möchten?

H.P.: Einige meiner „irdischen“ Werke mit der „Himmlischen Kantorei“ einstudieren zu dürfen.

schottchor.com: Würden Sie für uns abschließend noch folgenden Satz vervollständigen: „Chormusik ist für mich …

H.P.: …Musik für ein Ensemble stimmbildlich geschulter menschlicher Stimmen, fähig zum Ausdruck von musikablen und musikalischen Gedanken, a cappella oder von Instrumenten auf vielfältige Art und Weise begleitet.“