Schott Music

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Interview mit Thomas Gabriel

schottchor.com spricht mit Thomas Gabriel über die Akzeptanz von neuer Kirchenmusik, das problematische Etikett des „Sacro Pop“ und über seine beiden neu erschienenen Chorwerke „Missa Juvenalis“ und „Marcellinus-Messe“.

 

schottchor.com: Ihre Vorliebe, traditionelle (Kirchen-)Musik in ein neues Gewand zu kleiden, ist bekannt. Gelingt es damit tatsächlich, wieder mehr Kinder und Jugendliche in die Kirche zu locken?

T.G.: Ich hoffe, dass es so ist. Ich arbeite schwerpunktmäßig mit Kindern und Jugendlichen, aber eben in einer Form, die erst mal nicht durch feste kirchliche Strukturen geprägt ist. So bin ich regelmäßig an Schulen, Kinder- und Jugendheimen mit Projekten unterwegs, die natürlich alle christliche Inhalte haben. Und so gelingt es, junge Menschen vielleicht zum ersten Mal mit dieser Thematik in Verbindung zu bringen, Menschen, die sonst den Schritt in die Kirche nie gemacht hätten. Und wenn der eine oder andere dann diesen ersten Schritt fortsetzt, ist das ein Erfolg.

schottchor.com: Wie stehen die eher konservativen Kirchgänger bzw. Kirchenoberen zu dieser neuen Art von Musik?

T.G.: Überwiegend positiv. Ich habe nun das Glück, im Bistum Mainz zu arbeiten, und dort herrscht ein sehr offener Geist, geprägt durch Karl Kardinal Lehmann. Es ist sogar ausdrücklicher Wunsch der Bistumsleitung, diese neuen Formen von Musik dauerhaft zu installieren und als eine neue Facette der Kirchenmusik zu etablieren. Denn diese Musik kann es auch schaffen, traditionellen Kirchgängern wieder die Energie zuzuführen, die sie vielleicht am Anfang ihrer christlichen Karriere hatten und u.U. im Laufe der Jahrzehnte verloren haben. Was ich damit sagen will: Viele, viele ältere Menschen aus dem kirchlichen Milieu begrüßen diese Richtung außerordentlich und wollen sich nicht allein auf das klassische Messrepertoire reduzieren lassen.

Natürlich gibt es auch Richtungen in der Kirche, die sich schwer damit tun und mir und allen Gleichdenkenden das Leben schwer machen wollen. Aber solche „Flügelkämpfe“ zeigen ja, dass die Glaubensgemeinschaft lebendig ist …

schottchor.com: Warum wehren Sie sich gegen die Bezeichnung „Sacro Pop“ im Zusammenhang mit Ihren Kompositionen?

T.G.: Erst mal halte ich diese Wortkonstruktion per se für nicht gelungen. Wenn man aber über diese Befindlichkeit hinwegsieht, steht der Begriff ja für breitentaugliche Musik, die christliche Inhalte transportiert. Nun ist das mit der Popularmusik so eine Sache: Jeder Musiker möchte eine möglichst große Bühne, die Frage ist, um welchen Preis? Wie viel musikalischen, textlichen Inhalt will man für die Erhöhung der „Einschaltquote“ opfern? Diese Balance suche ich stets, aber im Vordergrund steht immer erst die musikalische Qualität; wenn das dann populär wird, umso besser. Im Bereich des Sacro Pop werde ich das Gefühl nicht los, dass dort oft diese Prioritätenliste auf den Kopf gestellt wird. Und das führt unweigerlich dazu, dass man mit immer leerer werdenden Sprach- und Musikhülsen konfrontiert wird.

schottchor.com: Welchen Stellenwert nimmt für Sie die „alte“ Musik Johann Sebastian Bachs auch im Hinblick auf Ihre eigenen Kompositionen ein?

T.G.: An Johann Sebastian Bachs Musik habe ich mein Leben lang Maß genommen. Meine Kenntnisse der Satztechnik habe ich zum großen Teil aus dem Studium seiner Werke gewonnen. Und seit über 30 Jahren gibt es ja mein Thomas-Gabriel-Trio, mit dem ich Musik von Bach in die Sprache des Jazz übersetze. Bei dieser Transformationsarbeit ist mir sehr klar geworden, wie Bach in etwa gedacht haben muss. Seine Tonsprache ist absolut logisch und biedert sich an keiner Stelle irgendeinem Publikumswunsch an. Diese Logik versperrt vielen Menschen den Zugang zu seiner Musik, die gelegentlich sperrig wirkt: Wenn man aber die Konstruktion versteht, ist es einfach nur großartig. Und für meine Oratorien habe ich aus der Dramaturgie der Matthäus- und Johannespassion gelernt, wie Spannungsbögen über einen langen Zeitraum gebaut werden.

schottchor.com: Wie würden Sie den Schwierigkeitsgrad Ihrer soeben neu veröffentlichten „Missa Juvenalis“ einstufen und welche Chorstärke schwebt Ihnen idealerweise vor?

T.G.: Die Messe ist nicht ganz leicht. Das dokumentiert sich schon in der Besetzung für vierstimmigen und dreistimmigen Oberstimmenchor. Um das zum Klingen zu bringen, braucht man schon einen leistungsfähigen Chor, den man natürlich nicht in absoluten Zahlen ausdrücken kann. Aber ich denke, mit 40 bis 50 guten Sängerinnen und Sängern kann man das Stück prima auf die Beine stellen. Auch hier gilt: Wenn man die Konstruktion einmal verstanden hat, ist es ganz leicht …

Die Orchesterbesetzung nimmt übrigens Rücksicht auf die Zartheit von speziell den jungen Stimmen im Oberstimmenchor: Holzbläser und Streicher vertragen sich in der Regel sehr gut mit der menschlichen Stimme. Blechblasinstrumente im Orchester benötigen dann ein großes chorisches Gegengewicht, welches man nur durch die große Zahl herstellen kann.

schottchor.com: Welches Klangideal schwebte Ihnen hier vor, auch hinsichtlich der Sopransolobesetzung?

T.G.: Ich bin immer auf der Suche nach einem Klang zwischen klassischem Oratorienchor und einem richtig guten Pop-Chor. Von beiden Seiten möchte ich gerne das Beste haben: die Klangfülle eines klassisch geführten Ensembles, verbunden mit Diktion und Intonationssicherheit einer perfekten A-cappella-Band. So würde ich mir auch die Solistin idealerweise vorstellen, wobei ich hier natürlich in Bereiche von der Stimmlage gehe, in denen Pop-Musiker nicht zu Hause sind. Aber es gibt ja in der jungen Generation von Musikern kaum noch jemanden, der Berührungsängste zwischen diesen beiden Welten hat, und so findet man immer mehr Solisten, die beide Genres bedienen können.

schottchor.com: Mit Ihrer „Marcellinus-Messe“ haben Sie im letzten Jahr eine der wenigen deutschsprachigen Messkompositionen für Männerchor geschaffen. Warum gibt es Ihrer Meinung nach kaum Alternativen zu Schuberts berühmter „Deutscher Messe“?

T.G.: Natürlich weil die „Deutsche Messe“ eine Gattung sozusagen „krönt“, indem sie sie unüberbietbar bedient. Nun gibt es in einigen Landstrichen Deutschlands (Seligenstadt gehört dazu) noch Männerchöre der alten Struktur, die immer auf der Suche nach neuen Werken sind und sich nicht ausschließlich in der Romantik betätigen wollen. Im weltlichen Bereich gibt es da einige tolle Neuansätze, im kirchlichen Bereich eher weniger. Ich vermute den Grund darin, dass landauf landab doch eher gemischte Chöre musikalische Träger der Liturgie geworden sind und Männerensembles sich dann eher des gregorianischen Gesanges annehmen.

schottchor.com: Geben Sie uns einen kleinen Einblick in den Entstehungsprozess des Werks?

T.G.: Der Kompositionszeitraum betrug ungefähr vier Wochen. Das ist in verschiedene Abschnitte gefallen, für den Chor „Gesellschaft der Freunde“ aus Seligenstadt, mit denen ich auch befreundet bin und die den Kompositionsauftrag erteilt haben, habe ich immer dann weitergeschrieben, wenn das bis dahin Bestehende fertig geprobt war. (In der Industrie spricht man hier, glaube ich, von „lean production“…)

Das Werk dauert ca. 20 Minuten. Ich glaube, dass man die Messe ganz fein mit einem Doppelquartett singen kann – oder auch mit einem traditionellen Männerchor mit möglichst 80 Herren. Aber das gibt es ja heute leider kaum noch.

schottchor.com: Was kann Ihrer Meinung nach das Singen im gemeinschaftlichen Rahmen, nicht zuletzt auch bei Kindern und Jugendlichen, bewirken?

T.G.: Das Finden der eigenen Persönlichkeit, das „Standing“, das man für das Leben braucht. Beim gemeinsamen Musizieren merkt man, worauf es in einem funktionierenden Sozialgefüge ankommt: Zuhören, Einordnen, Rücksicht nehmen, Gemeinsamkeit erleben, als Starker führen, als Schwächerer getragen werden. Ich habe in der traditionellen Kirchenmusik, wo ich ja eher mit privilegierten Jugendlichen und Kindern zu tun habe, schon immer gemerkt, welchen Entwicklungsschub gute Musik Menschen verleihen kann. Wenn man nun wie ich in den zwei letzten Jahren verstärkt mit sozial Benachteiligten Musik macht, merkt man, wie existenziell wichtig Musik ist; sie kann tatsächlich Persönlichkeiten zutage fördern, die in desaströsen Lebensverwicklungen verschüttet waren. Natürlich ist das nicht die Musik alleine, aber im Verbund mit guter Sozialarbeit können hier kleine Wunder bewirkt werden.